And Since I Made It Here, I Can Make It Anywhere
Ich lebte ein Jahr in Zhengzhou. Blicke ich bewusst auf diese Tatsache, frage ich mich, wo die Zeit geblieben ist und was ich eigentlich getrieben habe, während elf Monate in diesem Wahnsinnsland vergangen sind. Ok, die Zeit ist auf dem Rest der Welt nicht stehen geblieben, aber ein kleiner Teil in mir fühlt sich wie Dornröschen, das nach einem Jahr aus seinem Schönheitsschlaf erwacht, wenn ich nun zu meinem deutschen Leben zurückkehre. Denn dort ist alles so geblieben, wie ich es damals verlassen habe. Natürlich weiß ich, dass ich hier kein Jahr geschlafen habe und die Zeit auch nicht einer äußerlichen Verschönerung diente, jedoch sind die unzähligen Erfahrungen, die im Rückblick ein sicheres Selbstwertgefühl erzeugen, im Alltag versteckt geblieben. All die kleinen und großen Probleme, mit denen ich alleine konfrontiert wurde, sind das woran mich mein Austauschjahr wachsen lässt. Ob es Gewohnheiten der Gastfamilie sind, die man sich nur schwer aneignen mag, wirkliche Kommunikationsprobleme bei wichtigen Planungen, tägliche Situationen vor denen man nur die Augen schließen kann um nicht die Fassung zu verlieren oder Erlebnisse, die einem andersweitig eine harte Zeit machen. In dieser Hinsicht kommt es nicht darauf an, welches Land man sich aussucht, überall begegnet man diesen Konflikten und immer hat es im Endeffekt einen positiven Effekt auf einen selber: Man wächst daran und fühlt sich für Probleme, die einem im zukünftigen Leben begegnen werden, gewappnet.
Als ich mich vor drei Jahren dafür entschied, ins Ausland zu gehen, hatte ich nicht einen einjährigen Urlaub vor Augen. Ich bin auch nicht los gezogen um mich selber zu finden oder einen anderen Ort auf dieser Welt mein neues Zuhause werden zu lassen. Meine Idee fing mit meinem Unwissen über China an und wurde durch Neugierde und Mut zur Chance ein vollkommen unbekanntes Land kennenzulernen, in Form eines Austauschjahres. Ich hatte keine Vorstellung davon, wie es hier sein würde und informierte mich auch nicht. Ich wollte schlicht und einfach direkt, am eigenen Leib sozusagen, erfahren, wie es ist. "Wie ist China? - Voll.", so war mein erster Eindruck. Aber darüber schrieb ich bereits letzten Sommer, wie ist also mein Letzter? Ich hatte im zweiten Halbjahr viele schwere Momente, da es mir nicht leicht fällt, mich hier zuhause zu fühlen. Ich habe China kennen gelernt und viele Dinge entdeckt, die mich daran hindern, mich hier wohl zu fühlen. Ich habe kein Schamgefühl, zuzugeben, dass dieses Land nicht zu meinem zweiten Zuhause geworden ist, das war von Beginn nicht der Plan. Ich freue mich darauf, keine bellenden Rufe oder unerträglich quietschende Stimmen mehr auf den Straßen zu hören, ich bin es leid, mich von Menschen aufregen zu lassen, die bewusst ihre Umwelt vermüllen und Gestank produzieren und ich habe nichts dagegen, Kinder unter zehn Jahren nicht mehr beim Geschäft verrichten auf dem Bürgersteig sehen zu müssen. Doch ich werde im Gegenzug genau so sehr vermissen, wie unkompliziert manche Bürger mit der Einfachheit ihres Lebens umgehen und trotzdem zufrieden erscheinen, dass in der Schule keiner dem Wert meiner Kleidung Beachtung schenkt, dass ich mich nur für wenige Yuan in einen Zug zur nächsten Stadt setzen muss, um einen Tag, gefüllt mit neuen Erlebnissen zu erfahren. Doch am meisten, von dieser Stadt zu lernen. Zhengzhou steckt tief im Entwicklungsprozess, den Shanghai beispielsweise vor zehn Jahren erfahren hat. Für mich ist das spannend, denn um nennenswerte Veränderungen dieser Art in Deutschland erlebt zu haben, bin ich einige Generationen zu jung. Einzig an die Einführung des Rauchverbots in öffentlichen Gebäuden kann ich mich erinnern und erkenne somit in den Rauchern hier am Nachbartisch ein Bild vom Deutschland von vor zehn Jahren.
Kleine Sachen, die mich der Alltag in Zhengzhou gelehrt hat, sind beispielsweise zwischen Fußgängern und Elektro-Rollern, ohne Klingel oder ähnliches, tägliche Slalom Manövers hinzulegen, mit Stäbchen labbriges Toast zu schmieren oder meine Geduld zu trainieren, wenn alle Mädchen in den Klo Kabinen plötzlich das dringende Verlangen haben, genau in der Hockhaltung über dem Stehklo jegliche sozialen Netzwerke in Ruhe durch zu scrollen. Es ist offensichtlich, dass ich in wenigen Tagen bei meiner Ankunft in Deutschland einen weiteren Kulturschock erleben werde. Und der lässt mich momentan noch millionen mal aufgeregter sein, als vor einem Jahr, als ich nicht wusste, was mich damals hier in China erwartete.
Zwischen all dem Gefühlschaos, meinem Leben hier den Rücken zu zukehren und auf all das Vertraute und doch so Entfernte in meiner Heimat zu treffen, spüre ich das Verlangen euch meinen Dank auszudrücken. Ihr, die meine Geschichten gelesen und Erlebnisse mit mir geteilt habt, und wenn es nur mal ein einziger Artikel war, habt mir das Gefühl gegeben, meine Erfahrungen dupliziert zu haben, indem ich sie an euch weitergab. Ich habe mein gewonnenes Wissen über die chinesische Kultur mit Freuden nicht für mich behalten und hoffe, ihr hattet Gefallen daran, Charakterzüge und Traditionen der chinesischen Gesellschaft kennenzulernen.
Am kommenden Mittwoch Morgen werde ich den Straßen Zhengzhous Lebewohl sagen, somit ist dies mein letzter Blogeintrag.
Liebste Grüße,
温 安 美
Wen Anmei
Emma